Samadhi

Das höchste Ziel im Yoga

Über den Zustand jenseits von Gedanken, das Auflösen des Ichs – und die Frage, ob dieser Weg heute noch gangbar ist.

Was ist Samadhi?

Samadhi ist der krönende Abschluss des achtgliedrigen Pfads nach Patanjali – ein Zustand, in dem sich das individuelle Selbst vollständig mit dem universellen Selbst vereint. Es ist kein tranceartiger Rausch und auch keine übernatürliche Erfahrung im herkömmlichen Sinne, sondern ein stiller, glasklarer Bewusstseinszustand frei von Gedanken, Kategorien, Ängsten und Identitäten.

In Dhyana (Meditation) ruhst Du im Fluss der Konzentration. In Samadhi dagegen fällt dieser Fluss weg – es bleibt nur das stille Meer. Kein Beobachter, kein Objekt. Nur reines Sein.

Die subtilen Ebenen von Samadhi: Beeja und Nirbeeja

Traditionell unterscheidet man zwei Hauptformen:

  • Beeja-Samadhi („mit Same“)
    Hier bleibt ein minimaler Impuls bestehen – z. B. das Mantra, ein Gedanke, ein inneres Bild. Der Geist ruht darin, ist vollkommen absorbiert, aber das Bewusstsein hat noch ein Objekt.

  • Nirbeeja-Samadhi („samenlos“)
    Der höchste Zustand. Kein Same, kein Gedanke, kein Objekt bleibt bestehen. Reines, unbegrenztes Gewahrsein. In diesem Zustand fällt selbst das feinstofflichste Ego weg. Es ist die völlige Loslösung von allem Weltlichen.

Samadhi als Rückkehr in den Urzustand

Ein schönes Bild für Samadhi ist der Geist eines Neugeborenen – bevor Sprache, Erwartungen und Bewertungen greifen. Keine Urteile, keine Ängste, kein Konzept von „Ich“ und „Anderen“.

Im Zustand tiefer Meditation strebt die Praxis genau dahin:

  • Präsuppositionen loslassen

  • Verhaftungen erkennen und lösen

  • Den Geist leer machen, aber wach halten

Die alten Yogis wollten nicht „mehr werden“, sondern wieder werden – so rein, klar und unmittelbar wie am Anfang. Nicht als Rückschritt, sondern als Rückkehr zu einer ungetrübten Wahrnehmung, jenseits aller Masken.

Brauchen wir das heute noch?

Hier beginnt der kritische Teil. Ist Samadhi in einer modernen Welt mit Jobs, Familie, Selbstverwirklichung, sozialen Medien und globalen Krisen überhaupt realistisch – oder sogar sinnvoll?

Das Ego, das in der Yogaphilosophie oft als Illusion gesehen wird, erfüllt im Alltag viele zentrale Aufgaben:

  • Es schützt unsere körperliche und psychische Integrität.

  • Es strukturiert unsere Biografie und gibt uns Richtung.

  • Es hilft uns, Verantwortung zu übernehmen.

Ein vollständiges Auflösen des Ego – wie in Nirbeeja-Samadhi – kann in einer modernen Gesellschaft schwer tragbar sein, außer in einem monastischen oder zurückgezogenen Leben. Doch was bleibt, ist die Frage:
Wie können wir regelmäßig loslassen, ohne uns selbst zu verlieren?

Antwort: Durch bewusste Phasen der Kontemplation, z. B. in stiller Meditation, im Rückzug in die Natur oder in tiefer Yogapraxis. Dabei ist Pratyahara, der Rückzug der Sinne, eine wichtige Grundlage.

Siddhis: Die Kräfte auf dem Weg

In den Yoga Sutras von Patanjali wird Samadhi nicht nur als Ziel beschrieben, sondern auch als Quelle besonderer Fähigkeiten – den sogenannten Siddhis. Diese treten auf, wenn Samyama (die Verschmelzung von Dharana, Dhyana und Samadhi) auf bestimmte Objekte oder Prinzipien angewendet wird.

Beispiele aus alten Texten:

  • Anima: Verkleinerung bis zur Unsichtbarkeit

  • Mahima: Vergrößerung bis zur Allgegenwärtigkeit

  • Laghima: Überwindung der Schwerkraft

  • Vashitva: Kontrolle über andere Lebewesen oder Elemente

  • Clairvoyance, Telepathie, Zeitreisen

Patanjali warnt allerdings: Diese Kräfte sind Nebenprodukte, keine Ziele. Wer sich daran festhält, entfernt sich wieder vom Weg der Befreiung.

„Siddhis sind wie Blumen am Wegrand – schön, aber kein Ziel.“

In der modernen Yogapraxis können Siddhis auch symbolisch verstanden werden: Als gesteigerte Intuition, feine Wahrnehmung, Klarheit oder ein tiefes Mitgefühl.

Samadhi als Einladung – nicht als Pflicht

Samadhi ist keine Leistung, kein Erfolg, keine Trophäe. Es ist eine Rückkehr – zum einfachen, stillen, wachen Sein.

In einer Welt, die uns permanent mit Eindrücken überflutet, bietet die Yogapraxis die Möglichkeit, innerlich still zu werden, sich von Schichten des Ichs zu lösen und wieder in Kontakt mit dem zu treten, was jenseits von Rollen, Plänen und Sorgen liegt.

Dabei bleibt Samadhi vielleicht für die meisten kein dauerhaft erreichbarer Zustand – aber schon die Ausrichtung dorthin verändert unser Leben tiefgreifend.